Es erscheint paradox: Musiker sind Menschen der Öffentlichkeit, rocken die Bühne, ja, füllen ganze Konzerthallen – und dennoch gibt es erstaunlich viele unter ihnen, die gerade davor Angst haben. Lampenfieber. Nervosität, Angst und Angespanntheit packen die Betroffenen kurz vor dem Auftritt. Sicher hat jeder von uns dieses Gefühl schon einmal gehabt. Schweißausbrüche während eines Vortrags oder Herzrasen vor der Prüfung. Aber wie gehen Musiker eigentlich damit um, wenn sie sich Tag für Tag diesem unangenehmen Gefühl stellen müssen? Jessica Iser hat es herausgefunden.
Man glaubt es kaum, aber auch Superstars wie Adele trifft das Lampenfieber. "Ich habe Angst vor dem Publikum", gesteht sie. "Vor einer Show in Amsterdam war ich so nervös, dass ich aus dem Notausgang geflohen bin. Ich musste mich ein paar Mal übergeben (...) Ich mag Touren nicht. Ich habe sehr oft Angstattacken." Obwohl sie sagt, dass sie die Show danach umso mehr genießt, versucht die Sängerin ihre Panik mit Meditations- und Atemübungen zu bekämpfen.
Aber nicht alle gehen so vernünftig damit um. Peter Steele († 14. April 2010), der damalige Leadsänger der Gothic-Metal-Band Type O Negative, litt trotz seiner zwei Meter großen Erscheinung unter Lampenfieber. Die Weinflaschen, die ihn oft auf die Bühne begleiteten (zu sehen im Video ab Min. 2:17, 3:28 und 6:16), waren nicht für die Show: „Ich begann zu trinken, etwa eine Stunde, bevor wir auf die Bühne gingen, weil ich sehr nervös wurde“, erzählt Steele. Im Jahr 2005 verschwand er ohne Erklärung, bis sogar Gerüchte von seinem Tod die Runde machten. Tatsächlich befand er sich aufgrund von Paranoia in der psychiatrischen Abteilung des Kings County Hospital. Später begab er sich wegen Alkoholsucht und Drogenmissbrauchs in eine Entzugsklinik. Im Nachhinein bereute er es sehr, in die Sucht abgerutscht zu sein.
Selbst erfahrene Rocker wie Ozzy Osbourne trifft das Lampenfieber nach 40 Jahren noch. Der Frontmann von Black Sabbath schrieb in seiner Autobiografie „I Am Ozzy“ (2009): „Zu sagen, dass ich an Nervosität vor der Show leide, ist als würde man sagen, von einer Atombombe getroffen zu werden, tut nur ein bisschen weh.“ Da scheint die Angst wohl groß zu sein. Er fügt jedoch hinzu, dass er glücklich ist, wenn er schließlich auf der Bühne steht und all die Leute vor sich sieht.
Auch die Rock’n’Roll-Legende Elvis Presley († 16. August 1977) war vor dem Lampenfieber nicht gefeit. Doch im Gegensatz zu manch anderem, sah er diese Angst positiv. „Ich kam niemals über das hinweg, was man ‚Lampenfieber‘ nennt“, erzählt Elvis (zu sehen im Video ab Min. 1:36). „Ich gehe jede Show da durch. Ich nehme die Show sehr ernst und denke viel darüber nach. Ich fühle mich nie ganz wohl dabei und ich lasse es auch nicht zu, dass die Leute um mich herum sich komplett wohl dabei fühlen, indem ich sie daran erinnere, dass es ein neues Publikum da draußen ist und sie uns niemals zuvor gesehen haben. Also muss es wie das erste Mal sein, das wir auf die Bühne gehen.“
Laut Schätzungen müssen etwa 95 Prozent der Musiker mit Lampenfieber leben, so die Süddeutsche Zeitung. Dazu zählen weitere bekannte Musiker wie Jonathan Davis (Korn), Kurt Cobain († 05. April 1994, Nirvana), Marilyn Manson, Trent Reznor (Nine Inch Nails) und David Bowie. Viele von ihnen nutzen die Bühne, um ihre Schüchternheit zu überwinden und schöpfen Mut aus dem begeisterten Publikum. Viele Musiker behaupten, dass Lampenfieber die Shows nur noch besser werden lässt – Studien belegen das sogar, da diese Ängste in gewissem Rahmen die Aufmerksamkeit fördern. Das gilt jedoch nur, solange das Lampenfieber nicht krankhaft ausartet und sich zu einer ausgewachsenen sozialen Phobie entwickelt. Dann leiden Betroffene oft an Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Das psychologische Klassifikationssystem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) der American Psychiatric Association hat die „music performance anxiety“, also die Angst davor, Musik in der Öffentlichkeit aufzuführen, im Jahr 1994 als offizielles Krankheitsbild aufgenommen. An diese Angst gewöhnt man sich vermutlich nie. (ji)