Künstler haben ja häufig einen ganz eigenen Blick auf die Welt. Musiker drücken sich durch ihre Songs aus, während Grafiker häufig nur die Optik im Visier haben. Unser Bildchenmaler Patrick Dietl ist da keine Ausnahme. Er hasst die Mucke von Marilyn Manson, liebt aber die Videos der Band. Warum das so ist, erklärt er hier gleich selbst. Ob er die Filmchen aber nur noch ohne Ton guckt...?
Was wir Medienspezialisten (und alle Wikipediakorrekturleser) eine Bildsprache nennen ist so omnipräsent, dass sich kaum jemand Gedanken macht, wie mächtig sie ist. Wir wissen, wie viele Meilen unser Fleisch zurückgelegt hat und kennen die genaueste chemische Zusammensetzung unseres isotonischen Sportgetränks. Aber wissen wir auch, was eine Band/Marke in der Rockmusik wirklich ausmacht? Wie viel Band würde übrig bleiben, wenn es nur deren Musik gäbe, wir aber niemals ein Gesicht oder Cover sehen könnten?
Das frage ich mich, seit ich auf die Videos der Marilyn Manson-Band gestoßen bin. Ich fand und finde ihre Musik nicht gut. Warum ist egal, denn ich bin trotzdem Fan der Band. Wegen der Bildsprache ihrer Videos und nur deswegen! Geht das? Es war das Video zu "The Beautiful People". Es bekam 1996 zu Recht den MTV-Award für das beste Video und hat die visuelle Kennung der Band für die Zukunft gezeichnet.
Nachdem die früheren Videos eher Rohrkrepierer waren (von der Musik ganz zu schweigen!), war Floria Sigismondis Regiearbeit geradezu bahnbrechend für die Karriere der Band. Das Video lief auf MTV rauf und runter – und das war '96 krasser als heute jeder Shitstorm auf Youtube. Der Grundstein war gelegt, Sänger Brian Hugh Warner (ja, so heißt er bürgerlich) musste ab da nur schön seinen apokalyptischen Gesichtsgulasch à la Ziggy Stardust beibehalten, und die Videos mussten ihren Look pflegen. Das Video zu "Tourniquet" war dann auch wieder ein Riesenkracher. Sigismondis kombinierte opulenten Pomp mit einer künstlerischen Demontage von Körpern und Strukturen.
Als Marilyn Manson kurz danach "Man That You Fear" ohne Sigismondis filmisch umsetzen ließ, konnte das Video das vorherige Niveau nicht halten. Es folgten "Cryptorchid" und die Megaprovokation "Anti Christ Superstar". Beide waren ohne jeden künstlerischen Anspruch, stattdessen mit billiger Symbolik aufgepumpt, die sicher Marilyn Mansons eigener kreativer Hosentasche entsprang: Brian Warner ist nämlich bekennender Fan der Stilistik der Weimarer Republik, die er einmal schön als "The Golden Age of Grotesque" bezeichnete.
Die künstlerische Durststrecke war 1998 vorbei, als Paul Hunter auf den Plan trat und das Video zu "The Dope Show" der bereits aufgestellten Ästhetik zuführte. Wer sich zuvor fragte, was Marilyn Manson noch bieten könnte, um zu provozieren, bitte schön: Brüste! Dem Video tat dies aber keinen Abbruch – ästhetische Farben, eine nette Location und die Einführung der so typischen elektronischen Gerätschaften. Und siehe da, die Verkaufszahlen konnten sich sehen lassen! Da aber bereits das Folgevideo von Hunter patze, war es mit der Zusammenarbeit auch schon wieder vorbei.
Es folgten einige ästhetische Clips, die jedoch nicht mehr dem einstigen Level entsprechen wollten. Danach wiederum kamen aber Videos, die praktisch alle die Auszeichnung "Best Video Ever" verdient hätten: "The Fight Song", "MobScene", "Personal Jesus" und "Heart Shaped Glasses". Letzteres übrigens von James Cameron aufgelegt – Regisseur von Blockbustern wie Terminator, Aliens – Die Rückkehr, Avatar und Titanic!
Danke Marilyn Manson also für fast 20 Jahre voller Uniformen, Puppen, EKGs, Masken, Tonbändern, Vitrinen, Pinzetten, Pferden, Schweinen, Kellerräumen, Korsetts und Tauben, Faltern und auch Elefanten, ach ja – und viel, viel Blut.
Stellt sich mir die Frage, was aus Marilyn Manson geworden wäre, wenn sie in ihren Videos Kapuzenpullover und Jeans tragen und mit Skateboards die Straßen von Pleasantville herunterrollen würden ... (pd)