Der Punk ist in die Jahre gekommen. Doch das heißt noch lange nicht, dass seine Musiker seit Jahren dieselben ausgelutschten Sounds liefern. Wer den Punk lebt, entwickelt ihn über Genre-Klischees hinaus. "Diploid Love", das Solo-Album von Ex-Distillers- und Spinnerettes-Frontfrau Brody Dalle, bringt gereifte Virtuosität und jugendliche Energie auf einer Platte zusammen. Bettina Taylor hat reingehört:
Brody Dalles Karriere bedient die gängigsten Punk- und Grunge-Klischees: eine schwere Kindheit, Drogenprobleme und eine Scheidungsschlacht mit The Rancid-Sänger Tim Armstrong. Mit den Distillers prägte sie die US-Punkszene noch bis in die 2000er. Der Vergleich mit Cobain-Witwe Courtney Love lag vielen Medien nahe. Hätte nur noch gefehlt, dass sie die berühmte 27 nicht überlebt hätte. Doch das hat sie zum Glück. Mit 35 Jahren ist die Australierin nun mit Queens of the Stoneage-Frontmann Josh Homme verheiratet und lebt mit ihren zwei kleinen Kindern in Los Angeles.
Während ihr Privatleben zahmer geworden ist, ist ihre Musik umso interessanter. Die neun Songs auf "Diploid Love" verströmen zwar nach wie vor die unerschöpfliche Energie, die auch ihre alten Projekte auszeichnet. Doch die rauen Power-Chords, die chaotischen Rhythmen und den kämpferischen Gesang entwickelt Dalle diesmal außerhalb bekannter Genre-Konventionen weiter. In "Rat Race", dem Opener von Diploid Love, plätschert das Tempo lässig dahin. Weil sich die Gitarre mit stetigen Akkordfolgen zurückhält, können die kleinen Synthie-Melodien umso mehr zur Geltung kommen.
Auch der stärkste Track der Platte "Meet The Foetus/Oh The Joy" zeichnet sich durch Zurückhaltung aus. In der ersten Hälfte baut eine mystische Melodie und summender Gesang geschickt eine subtile Spannung auf, um sich das Beste zum Schluss aufzuheben: Nach einem radikalem Tempowechsel bekommen ehemalige Distillers-Anhänger dann endlich die Gitarren-Anarchie, für die sie Dalle lieben. Beim Background-Gesang hat sich die Musikerin außerdem prominente Verstärkung von Garbage-Sängerin Shirley Manson und Emily Kokal von der US-Rockband Warpaint geholt. Nick Valensi von The Strokes half zusätzlich an der Gitarre aus.
Textlich macht Brody Dalle auf ihrem Solo-Debut, bei dem sie neben Alain Johannes auch erstmals als Produzentin mitwirkte, ebenfalls einiges anders. In einem Interview mit dem britischen Musikmagazin NME gestand sie, dass sie sich früher in ihren Texten auf Gesellschaftskritik konzentrierte, weil sie damals nichts zu sagen gehabt habe. Heute seien ihre Texte persönlicher. Wer genau hinhört, wird in "Meet The Foetus/Oh The Joy" die Freuden und Ängste ihrer Mutterschaft heraushören. "I Don’t Need Your Love" lässt sich hingegen fast als Anti-Ballade bezeichnen. Hier rechnet Dalle mit ihrem Vater ab und nutzt gleichzeitig das Stimmvolumen ihres tiefen Alt-Gesangs voll aus. Als die Melodie in dissonante Streicher und Baby-Gelächter ausklingt, ist klar, dass diese Frau eine bewegte Vergangenheit hinter sich lässt.
Dalle hat sich neue musikalische Horizonte erschlossen. Es scheint aber, als ob sie sich an ihr erweitertes instrumentales Repertoire noch gewöhnen muss. Manche Klänge, die ihre dreckigen Grunge-Riffs verzieren, zerlaufen ins Leere oder wirken schlicht unpassend. Insbesondere der Elektro-Rhythmus von "Carry On" lässt schnell Langeweile aufkommen. Auch der Spannungsbogen von "Don’t Mess With Me" ist vorhersehbar. Deswegen kann auch "Parties For Prostitutes" als gelungener Abschluss nicht den Gesamteindruck wettmachen: Da ist etwas noch nicht zu Ende gedacht – oder positiv formuliert: Da geht noch was! Im besten Fall wird Brody Dalles nächstes Werk neue Stärken weiter ausbauen ohne ihre Punkwurzeln aus den Augen zu verlieren. (bt)