England ist Europas Außenseiter. Linksverkehr, Bier ohne Schaum und eine eigene Währung machen das Land zum kontinentalen Exzentriker. Eines muss man den Briten dennoch lassen: Mit den Beatles oder The Rolling Stones haben sie Musikgeschichte geschrieben. Nun heißt der neuste Insel-Export "Indie". Seine Vertreter Franz Ferdinand, The Kooks oder Arctic Monkeys genießen Welterfolg. Aber wo hat der britische Indie-Rock seine Wurzeln? Bettina Taylor hat sich auf eine kleine Zeitreise begeben:
Es ist 1992. Egal, ob kommerzielle Boy Bands oder dreckige Garagen-Rocker, populäre Musik kommt vornehmlich aus den USA. Der manierliche Brite sucht zwischen Holzfällerhemden à la Seattle-Grunge und Techno-Schlaghosen vergeblich eine Identitätsfigur. Schon bald hat er es satt, abzuwarten und Tee zu trinken: Damon Albarn, Graham Coxon, Dave Rowntree und Alex James gründen Blur mit einer Mission: "Get rid of Grunge". Ihr zweites Album "Modern Life Is Rubbish" verleiht England seit den Beatles endlich wieder ein musikalisches Sprachrohr. In "For Tomorrow" besingt Frontman Damon Albarn den London-Underground-Alltag und kleidet Gesellschaftskritik in seichten Pop-Rock. Unrockige Instrumente wie Querflöte charakterisieren dabei den typischen Neunziger-Britpop. Doch schon bald entspringt im nördlichen Manchester ein Rivale. Die Brüder Liam und Noel Gallagher sind überzeugt, mit Oasis die beste Band der Welt gegründet zu haben. So druckst Gitarrist Paul Arthurs nicht lange herum, als der Betreiber eines Glasgower Clubs den schicksalsprägenden Auftritt verbieten will: "Wir spielen, oder wir nehmen den Laden auseinander." Man fühlt sich in seiner (un)feinen englischen Art wohl bestätigt, denn immerhin bringt der Auftritt ihnen einen Plattenvertrag. Das Erfolgs-Debüt "Definitely Maybe" prägt mit Songs wie "Cigarettes And Alcohol" ihr Rüpel-Image. Mit Oasis wird auch die Arbeiterklasse Nordenglands von der Britpop–Welle erfasst.
Von Cool Britannia zur British Invasion
Als die Gallagher-Brüder 1994 durch den internationalen Erfolg von "What’s The Story Morning Glory" die "British Invasion" vollenden, ist ihnen das nicht genug. Den versnobten Südländern Blur muss gezeigt werden, wer der wahre "King of Britpop" ist. Von sensationslustigen Medien angestachelt, dichten sie bei den Brit-Awards 1996 den Blur-Hit "Parklife" volltrunken in "Shit-Life" um. So machen offenbar auch Skandale Großbritannien weltweit zum Trendsetter, denn der spezielle britische Humor erlebt durch den Film "Austin Powers" ein Revival. Zu allem Überfluss weht im Lande des Fish & Chips auch politisch frischer Wind. Die konservative eiserne Lady Margaret Thatcher muss den Platz für Tony Blairs New Labour räumen. Eiscremehersteller Ben & Jerry’s feiert das mit der neuen Sorte "Cool Britannia". Englands Nationalstolz schmeckt nach Vanille, Erdbeere und Schokolade überzogen mit Shortbread.
Britpop implodiert
Obgleich Britpop viele Hoffnungen weckt, jede medial überdrehte Bewegung fällt irgendwann in sich zusammen. Anfang 1997 titelt das Kulturmagazin "Vanity Fair" noch "London Swings!", doch dieses Jahr leitet regelrechtes Bandsterben ein. Elastica oder Pulp sind heute sogar auf der Insel kein Begriff mehr. Selbst das dritte Oasis-Album "Be Here Now" kann seinen Kritikern nicht standhalten – London swingt wohl doch nicht mehr so ganz. Blur werden zwar durch "Song 2" in den USA berühmt. Wohl aber auch, weil sie sich von ihrem klassischen Sound abwenden und härtere Töne anschlagen. So bilden die Bands Radiohead und The Verve schließlich das psychodelische Schlusslicht des Britpop. Künstler, die sich neu erfinden konnten, sind somit noch präsent. Blur-Sänger Damon Albarn kreiert 1998 mit Tank-Girl-Zeichner Jamie Hewlett "Gorillaz", eine Comic-Band mit Rock-, Dance- und Hip Hop-Einflüssen. Die Oasis-Brüder Noel und Liam Gallagher haben nach dem kommerziellen Sieg über Blur keinen gemeinsamen Feind mehr. Im Oktober 2009 zerbricht die Band an brüderlichen Gezanke. Doch die kreative Dürre währt nicht lange.
Britpop’s Second Wave?
Seit 2005 Franz Ferdinand mit Riffen durchschlug, die auch aus den Neunzigern stammen könnten, entwickelt eine Indie-Generation Britpop weiter. Mit Electro- und Synthesizer-Elementen haben Muse oder Bloc Party unverfälschte Gitarrenmelodien tanzbarer gemacht. Deswegen gelingt ihnen im Gegensatz zu den älteren Bands auch sofort ein globaler Durchbruch. In England ist der Mega-Hype, wie Blur oder Oasis ihn 1996 erlebten, jedoch ausgeblieben. Andrew Mueller, ehemals Redakteur der Musik-Zeitschrift "Melody Maker" weiß, warum: "Diese Bands sorgen sich mehr um den internationalen Markt. Oasis und Blur dagegen brauchten Amerika nicht." Haben die Bands der Brit-Indie-Welle ihr Außenseitertum also abgelegt, um eine "British Invasion" weltweit zu starten? Das werden Künstler entscheiden, die auch diesen Hype bestehen. Letztlich bleibt England eine standfeste Heimat für authentischen und ehrlichen Rock, in einer Zeit, in der Musik per Casting-Shows als Massenware vertickt wird. (bt)
Mehr Infos:
- Wer mehr über Britpop erfahren möchte, kann sich eine witzige Radio-Doku von BBC-Radio anhören.
- Auf Indiepedia lernt ihr alles, was es über Indie- und Popkultur zu wissen gibt.
- Plant ihr schon den nächsten Insel-Urlaub? Konzert-Infos und anregende Locations bekommt ihr über England-rocks.com, eine Seite des englischen Touristenamts.