"Fahrt mal alle zur Waldbühne, da ist grad 'ne Veranstaltung zu Ende. Aber nich‘ erschrecken, die sind alle maskiert!" Was sagt uns der Berliner Taxifunk gegen halb elf am 12. Juni? Dass nach einem Konzert in der Waldbühne das offenbar solvente, wenn auch etwas exzentrische Publikum auf komfortable Heimreisemöglichkeiten hofft. Aber auch: Dass das einzige Deutschland-Konzert von KISS, der "hottest band in the world" komplett an der Wahrnehmung der sonst so topinformierten Berliner Taxikutscher vorbeigerauscht ist. Kurz also, ein Ereignis, das keines war. Wie konnte das passieren?
KISS gibt es nun seit 40 Jahren, und fast genauso lange spulen die mittlerweile älteren Herren ihre Show ab, zu der der großzügige Einsatz von Pyrotechnik, Kunstblut und Gene Simmons‘ Zunge gehört. Das erwartet der geneigte Fan genauso wie die Plateaustiefel und das Make-up. Und das bekommt er auch! Never change a winning team! In Kombination mit gut abgehangenen Krachern wie "Shout It Out Loud", "Love Gun" oder "God Of Thunder" sowie einigen Nummern (u.a. "Hell Or Hallelujah") von der aktuellen Platte "Monster", sollte es also ein Fest für meine innere Rockchick werden. Und die gerät schon in Wallung, wenn sie sich nur eine KISS-DVD zuhause auf dem Sofa reinzieht. Dass der Funke nicht so recht überspringen wollte, lag also bestimmt nicht an der fehlenden Einstellung der Autorin. Und auch nicht an der des restlichen Publikums, das teilweise großartig kostümiert, teilweise als Dreigenerationen-Großfamilie und erschreckenderweise häufig Erdbeerbowle schlürfend in Berlins grüner Picknick-Arena den lauen Sommerabend genoss.
Warum KISS für ihr einziges Konzert im Lande ausgerechnet die Berliner Waldbühne gewählt haben, bleibt ihr Geheimnis – auch wenn Paul Stanley sich als "Ich bin ein Berliner!" outete (weil seine Mama in der Joachimstalerstraße aufgewachsen war) und die Hauptstadt flugs zur einzig wahren "Rock City" ernannte, nur um dann doch wieder Detroit zu huldigen. Einen Gefallen haben sie sich damit jedenfalls nicht getan. Ein Feuerwerk vor hellblauem Abendlicht ist halt nur so mittel-spektakulär und wenn man bei einem Rockkonzert noch ganz entspannt mit dem Nebenmann plaudern kann, läuft auch irgendwas falsch. Doch die Berliner Nachbarschaft ist lärmempfindlich und will ab 22.30 Uhr gar nicht mehr belästigt werden. Da halten sich auch die ehemaligen Schock-Rocker treu und brav daran. Geahnt haben das offensichtlich viele schlaue KISS-Army-Mitglieder schon vorher und sich erst gar nicht um eine der 22.000 möglichen Karten bemüht. Bei nur 16.000 Zuschauern hatten die Schwarzmarktverkäufer einen miesen Abend erwischt. Genau wie leider auch Paul Stanley. Der 61-jährige Rhythmusgitarrist passt zwar noch 1a in sein "Starchild"-Outfit, aber seine Stimme hatte er offensichtlich noch beim Zoll gelassen. Egal ob er zum Publikum sprach oder sang. Heraus kam nur ein äußerst intonationsschwaches Gekreische. "Shock me"!
Besser in Form dagegen präsentierte sich "The Demon" Gene Simmons. Am Nachmittag vor dem Gig hatte er im Hardrock-Café noch eine junge BZ-Reporterin mit seiner langen Zunge beeindruckt und mit der Fabel von seiner mutmaßlich vielköpfigen, illegitimen Kinderschar, die sich sicherlich auch in Berlin tummele. Auf der Bühne befingerte er dann später nicht nur routiniert seine Bässe, sondern spuckte erst Feuer, später Blut und hatte zwischendurch immer genug Puste für seine Gesangsnummern. Routiniert ist überhaupt das Adjektiv der Wahl für diesen Abend, denn auch Drummer Eric "The Cat" Singer und Lead-Gitarrist Tommy "The Spaceman" Thayer waren souverän am Werk und gaben sich nicht die geringste Blöße. Für Begeisterungsstürme sorgten sie allerdings auch nicht. Ein Hauch von Euphorie schwang lediglich bei den Zugaben mit, als für "I Was Made For Lovin' You" sogar die Muttis ihre Bowlegläser beiseite stellten und Hüften und Haare schwingen ließen.
"Hatten Sie einen netten Abend?", wollte unser Taxifahrer auf dem Heimweg wissen. Und ja, es war exakt das: ein netter Abend! Sehr nett sogar. Aber will man das wirklich, wenn man zu KISS geht? (cm)