Du gehst durch ein verlassenes Spukhaus. Eine Tür knallt hinter dir zu. Das prähistorische Parkett ächzt unter deinen Schritten. Noch bevor du dich orientieren kannst, füllt sich die Dunkelheit mit einer Bassmelodie. Zu deiner Linken öffnet sich eine Tür, hinter der eine Band die Akkorde eines düsteren Rocksongs anstimmt. Nein, du sitzt nicht im Kino und schaust dir den neusten Tim Burton-Streifen an. Du sitzt mit Bettina Taylor vor deinem Computer und klickst dich durch das interaktive Musikvideo zu "Vampyre of the Time and Memory", die aktuelle Single von Queens of the Stoneage.
Zugegeben, interaktiv ist ein dehnbarer Begriff. Die Idee verspricht jedoch ein Musikerlebnis, das über den klassischen MTV-Clip hinausgeht. Der Zuschauer darf nämlich bei der visuellen Untermalung des Song ein Stückchen mitbestimmen. Wie genau, ist immer ein wenig anders: Entweder man erkundet ein virtuelles Spukhaus, zappt sich durch ein TV-Programm ("Like A Rolling Stone" von Bob Dylan) oder macht Crowdsourcing-Klick-Gymnastik ("Kilo" von Light Light).
Schon 2008 begleitete die Berliner Hip Hop Crew K.I.Z. ihre Single "Neuruppin" mit Psycho-Schockern. Seitdem haben sich zahlreiche Musiker in dieser Präsentationsform versucht. Das interaktive Musikvideo könnte – nach dem vermeintlichen Tod des Musikfernsehens – den verwöhnten Fan wieder packen. Auch der wirtschaftliche Faktor spielt eine Rolle, denn in vielen interaktiven Musikclips wird gerne der ein oder andere Fanshop-Link gestreut. Bands wie die Red Hot Chili Peppers nutzen aber auch die Möglichkeit, Fans mehr an ihrer Musik teilhaben zu lassen und bauen in ihrem Clip zu "Look Around" ein Making Of ein. Das Video bietet nicht nur mehrere Perspektiven an, sondern hinterlässt das Gefühl, beim Videodreh hautnah dabei gewesen zu sein. Da kommt kein klassisches Video heran!
Umgesetzt werden interaktive Musikvideos meist auf Webseiten, die mit HTML5 oder Flash programmiert wurden. Wer sich im Netz umschaut merkt schnell, dass die Qualität schwankt. So sind die 3D-Kamerafahrten der Drum-and-Bass-Band Pendulum in ihrem Clip zu "Salt in the Wounds" wohl kaum interaktiv. Arcade Fire hat sich dagegen zu viel vorgenommen: Mit Hilfe von Google Streetview sollte der Fan selbst mitbestimmen, in welcher Stadt er den Protagonisten zum "Song We Used to Wait" durch die Straßen rennen lässt. Stattdessen wird die Webseite zum Geduldsspiel. Es kostet mehrere Versuche, einen Ort zu finden, der ausreichend erfasst ist und danach stockt die Animation ständig. Ein typisches Beispiel dafür, wie ein kreatives Projekt wegen technischer Stolpersteine gegen die Wand fahren kann.
Die Grenzen zwischen gelungenen Mitmach-Clips und technisch unreifer Pseudo-Interaktivität sind fließend. Dennoch lohnt es sich, das interaktive Musikvideo im Auge zu behalten. Nach überproduzierten MTV-Stücken und viralen YouTube-Clips scheint es als Kunstform eine Evolutionsstufe höher geklettert zu sein. Im Zeitalter medialer und musikalischer Überflutung könnte das vielversprechende Genre ausgleichen, was wir leider immer mehr vernachlässigen: Musik intensiv wahrzunehmen. (bt)
Hier eine Top 10-Liste interaktiver Musikvideos:
Platz 1: Rome – Two Against One/Black: Danger Mouse & Daniele Luppi Present begleiten mit Jack White und Norah Jones einen verrückten Traum.
Platz 2: Queens of the Stoneage – Vampyre of the Time and Memory: Zu Besuch bei Vampir Josh Homme.
Platz 3: The Streets – Computer and Blues: Mit Mike Skinner in London auf Essensuche gehen – oder liegen bleiben...
Platz 4: Red Hot Chili Peppers – Look Around: Hier kann man jedes Bandmitglied in seinem eigenen Raum besuchen. Verstreute Hints zeigen Hintergründe.
Platz 5: Boby Dylan – Like A Rolling Stone: Sich mit Dylan durch verschiedene Kanäle zappen – und alle singen mit!
Platz 6: Maxwell Powers – Pieces/ Together: Elektropop-Musiker Maxwell Powers zeigt uns, wie fragmentiert wir sind.
Platz 7: Death Grips – Gif Me More Party: Die US-Hip Hop Crew Death Grips zeigen eine Poolparty im Perspektivwechel.
Platz 8: Ellie Goulding – Lights: Schöne Farben sind schöne Farben – und noch schöner mit Ellie Gouldings Stimme!
Platz 9: Light Light – Kilo: Klick-Animation zum Song Kilo – Ihr werdet euch wundern, wo die Menschen ihre Maus hinbewegen!
Platz 10: Bombay Bicycle Club – Carry Me: Die Indieband lässt uns in ihrem Elektrotrack die Tänzer lenken.