Ein düsterer Graf beschallt Beerdigungen, blockiert monatelang die Topposition der Albumcharts, betört die Nation und die Friseuse von Redaktionshund Toni. Grund genug für SdR, dem seltsamen Phänomen "Unheilig" ein wenig auf den Zahn zu fühlen.
Zugegeben, meine bislang bemerkenswerteste Erfahrung mit dem Thema Gothic-Rock liegt schon ein Weilchen zurück, und kapriziert sich in erster Linie auf die "Sisters of Mercy" und einer lang verflossenen Liebe mit schwarzen Kajal-Lidstrich (sehr apart an einem blonden Jüngling ...). Beides – die Gnadenschwestern und der Lidstrich-Knabe – waren langfristig nicht so mein Fall. Und um es vorweg zu nehmen: Daran hat sich bis heute nichts geändert! Und trotzdem fällt es mir schwer, den Grafen aus meinem Bewusstsein zu verdrängen.
Schuld daran sind ziemlich viele, ziemlich seltsame Erlebnisse in der letzten Zeit: Seit Monaten kann man das Radio einschalten wann immer man will, und früher oder später schallen aus sonorem Organ Weisheiten wie "Wir waren geboren, um zu leben, mit den Wundern jeder Zeit, sich niemals zu vergessen, bis in alle Ewigkeit" aus dem Äther. Was zwischen Lady Gaga und Katy Perry durchaus auffällt. Irgendwann nahm ich dann zur Kenntnis, dass sich der Besitzer dieser Stimme "der Graf" nennt und seine Band "Unheilig", und das aktuelle Album "Große Freiheit" insgesamt 16 Wochen auf Platz 1 der deutschen Albumcharts verbracht hat. Bisheriger Rekordhalter war Herbert Grönemeyers "Ö" mit 14 Wochen – aber das war 1988, zu einer Zeit also, als noch ernsthaft Platten gekauft wurden. Doch selbst diese durchaus bemerkenswerte Erkenntnis konnte ich noch weitgehend unkommentiert hinnehmen. Das wurde schwieriger als ich kürzlich gelesen habe, dass eben jenes "Geboren um zu leben" inzwischen einer der Tophits auf Beerdigungen ist. Auf Beerdigungen!? Das stelle ich mir wirklich ergreifend vor, wie ein geliebter Angehöriger unter Pseudo-Gothic-Sound in die Grube geschickt wird. Vielleicht noch in besonders geschmackvoller Kombination mit Andrea Bocellis "Time to say goodbye"? Ich weiß ja nicht ...
Als mir dann aber kürzlich Redaktionshund Tonis engagierte Friseuse die gleich folgende herzerwärmende Geschichte erzählt hatte, war mir klar, dass ich was tun muss. Die Fellpflegerin hatte sich gerade von ihrem Ehemann getrennt. Meine mitfühlenden Kommentare tat sie aber gleich als unnötig ab. Ihr Herz sei bereits wieder anderweitig gebunden – an ihre erste große Liebe, die sie nach 25 Jahren wieder gefunden hatte. Viel war geschehen in beider Leben, aber das Gefühl war so frisch wie vor einem Vierteljahrhundert. Und als gemeinsamer Nenner, ach was, als Zement dieses ungewöhnlichen Liebes-Revivals entpuppten sich die "unglaublich tiefsinnigen, emotionalen Texte" des Grafen! Puh, das musste ich mir erstmal auf der Zunge zergehen lassen.
Dann aber besorgte ich mir sofort die "Große Freiheit". Wenn Musik derart magische Fähigkeiten haben soll, muss man eigene Vorurteile einfach mal beiseite schieben! Und zumindest optisch ist es sehr ansprechend. Ein schwarz-rotes Seestück – Oceanliner vor Vollmond. Da ich eine gewisse maritime Schwäche habe, gefielen mir auch die nautischen Songtitel. "Das Meer", "Seenot", "Auf Kurs", "Unter deiner Flagge", "Fernweh" – klang alles außerordentlich vielversprechend. Ich war also wirklich willens, mich verzaubern zu lassen! Allein, es hat nicht geklappt: Als Pluspunkt kann ich lediglich die Stimme von Bernd Heinrich Graf (wie der Graf bürgerlich heißt) nennen. Dieser Weltschmerz-Sprechgesang hat schon was! Jedenfalls dann, wenn es gelingt, die extrem pathetischen Inhalte auszublenden und den gigantomanischen Kitsch-Gothic-Sound zu ignorieren. Nun ja, mir ist das bisher nicht gelungen. Musikalisch erinnert mich das Album an ein Musical – eingängige Melodien, die extrem bombastisch verpackt wurden. Selbst harte Gitarrenpassagen (wie in "Seenot") wirken wie an den Kanten abgeschliffen. Nur niemanden wehtun wollen, war wohl das Motto. Kein Wunder, dass sich die Gothic-Gemeinde enttäuscht vom Grafen abgewandt hat. Er habe seine Seele an den Kommerz verkauft, heißt es. Gegen Geldverdienen spricht ja nichts, und vielleicht erleben wir demnächst in einer unserer bundesrepublikanischen Musical-Metropolen die "Große Freiheit" live on stage? Ein Erfolg wäre sicher.
Aber ist es nicht schön, dass die Geschmäcker so unterschiedlich sind? Und tröstlich ist auch, was Unheilig selbst vorweg nehmen: "Nichts ist für immer und für die Ewigkeit" (aus dem Lied "Für immer") – es gibt also noch Hoffnung ... Und für Beerdigungen empfehle ich "Highway to hell"! (cm)