Experimentelle Klangkunst und akustische Epen würden wohl die wenigsten The Strokes-Anhänger von Frontmann Julian Casablancas erwarten. Mit "Tyranny", das er mit Verstärkung von The Voidz kreiert hat, mag er mit hemmungslosem Avantgarde-Rock so manchen Fan verschrecken. Reinhören lohnt sich dennoch. Findet Bettina Taylor.
2001 holte die New Yorker Band The Strokes mit dreckigem Lo-Fi-Garagensound und Casablancas Gröl-Gesang den 70er-Jahre-Punk ins 21. Jahrhundert. In einer Zeit, die von überproduziertem Pop-Rock dominiert wurde, war ihr Sound bahnbrechend. Ob sie Franz Ferdinand oder den Arctic Monkeys als weiteren Bands dieser Ära den Weg ebneten, wie manche Medien behaupten, sei dahingestellt. Mit ihrem erfrischend alten Stil füllten sie zumindest die ideenlose Leere nach der 90er-Jahre-Britrock-Euphorie. Kein Wunder, dass die vier Nachfolger-LPs von The Strokes dem Anspruch vieler Kritiker trotz verhältnismäßig großer Hit-Dichte nie gerecht wurden. Doch das hielt die Bandmitglieder nicht davon ab, an eigenen Soloprojekten musikalisch zu wachsen.
Julian Casablancas lässt in seinem Longplayer "Tyranny" die punkige Einfachheit von The Strokes hinter sich, um aggressive Verzerrung und gewollt schlechte Aufnahmetechnik ins Äußerste zu treiben. Dabei ist der Albumtitel Programm: "Tyranny" führt seine Hörer durch regelrecht durchkomponierten Krach aus Vocoder-Effekten, Synthies und verzerrten Soli. Hier sei der ewige Vergleich zum The Strokes-Debüt vielleicht doch angebracht: Das Album füllt ganze 63 Minuten. "This Is It" kommt mit knackigen 38 Minuten aus! Nur vereinzelt belohnt "Tyranny" mit eingängigen Melodien und leichten Rhythmen. Wer sich aber auf den eigensinnigen Sound einlässt, wird ihn umso mehr zu schätzen wissen. "Where No Eageles Fly" bringt einen genialen Ohrwurm-Bass, 80er-Jahre-Keyboard-Melodien und Metal-Momente zusammen. So richtig experimentell wird es aber in "Human Sadness". In der ersten Hälfte des Songs heult Casablancas Vocoder-Stimme mit Gitarren um die Wette. Nach fünf Minuten verwandelt sich die fast romantisch klingende Melodie in dreckig-schweres Schlagzeug, langgezogene Synthies und unzählige auditive Schichten aus Gameboy-Geräuschen und Rauschen, um schließlich von einem seltsamen Gitarren-Solo gekrönt zu werden – dieser Zehn-Minuten-Track ist regelrecht akustisches Ausrasten. "Nintendo-Blood" kommt zunächst poppig daher, Casablancas resigniert lallender Gesang schafft es aber dennoch, eine aggressive Grundstimmung zu kreieren. "Dare I Care" überrascht wiederum mit seinem exzentrischen Rhythmus. Insgesamt scheint jedes Lied auf dieser LP auf seine individuelle Art und Weise herausfordern zu wollen. Entweder man hasst es oder liebt es.
Dass Casablancas mehr kann, als punkige Zwei-Minüter zu komponieren, hat er 2009 mit seinem ersten Solo-Album "Phrazes for the Young" und genreübergreifenden Kollaborationen, wie zuletzt mit Daft Punk, bewiesen. Während er als The Strokes-Frontmann mit punkiger Schlichtheit überraschte, setzt er nun mit durchproduziertem Krach und unkonventionellen Songstrukturen neue Maßstäbe. Das fordert nicht nur ihn heraus, sondern auch seine Fans – und das ist auch gut so!
Im Dezember machen Julian Casablancas + The Voidz bei ihrer Tournee übrigens auch in Deutschland halt. Mehr Infos gibt’s auf ihrer Homepage. (bt)