Eine Frau macht Rockmusik? Das finden viele immer noch bemerkenswert und an allen Ecken und Enden warten Fettnäpfchen und Sexismusfallen. Dabei sollte es doch schlicht um die Musik gehen. Bettina Taylor nähert sich diesem Phänomen von einer etwas anderen Perspektive: Über die Ausnahme-Musikerin St. Vincent.
Annie Clark aka St. Vincent ist eine der wenigen Künstlerinnen, deren Image nicht auf Geschlechterrollen fußt. Dabei ist die Multi-Instrumentalistin aus den USA prädestiniert für die Rolle der "schönen Musikerin". Mit ihrem puppenhaftem Aussehen und figurbetonten Bühnenoutfits spricht sie gängige Schönheitsideale an. Dennoch schafft sie es auf beschämend natürliche Weise, die Musik im Vordergrund ihrer Präsenz zu stellen – bei aller Gleichberechtigung, die sich Frauen in den letzten Jahrzehnten erkämpft haben, leider immer noch bemerkenswert.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass St. Vincents Musik einfach zu virtuos und vielschichtig ist, als dass sie auf ihr Äußeres reduziert werden könnte. Mit zwölf Jahren nahm sie die Gitarre zum ersten Mal in die Hand und wollte sie von da an nicht mehr weglegen. Das Musikstudium am Berklee College brach sie dennoch ab, um alles, was sie je über Musik gelernt hatte zu vergessen und etwas ganz eigenes zu kreieren, wie sie es mal in einem Interview mit dem Musik-Blog Westword.com formulierte.
Nach soliden Tour-Erfahrungen mit der Psych-Folk-Band The Polyphonic Spree brachte Clark 2007 schließlich ihr Debüt "Marry Me" heraus. Ihren seltsamen aber eingängigen Rock-Sound vergleichen Kritiker mit Kate Bush oder David Bowie. Diese Virtuosität würde sie in den Folge-Jahren mit den dunkleren Alben "Actor" (2008) und "Strange Mercy" (2011) weiterentwickeln. Auch der kommerzielle Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Ihr Markenzeichen - eine fetzige Gitarren-Finger-Technik - bildet einen Kontrast zu ihrer voluminösen Chor-Stimme, die poetische bis ironische Lyrics anstimmt. In diesen komplexen Arrangements kommen die unterschiedlichsten Stimmungen zusammen. So ist auch ihr aktuelles Album "St. Vincent" die reinste Gefühls-Achterbahn. Im Vergleich zu den letzten Platten zeichnet es sich mit "Digital Witness" und "Bring Me Your Loves" durch tanzbare Tracks aus. Inspiriert wurde sie dabei von Ex-Talking-Heads-Frontmann David Byrne, mit dem sie 2013 "Love Is Giant" aufnahm und um die Welt tourte. Dabei singt Clark über die Tücken des Digitalen Zeitalters und die allzu menschliche Kluft zwischen selbstgesteckten Idealen und alltäglichem Verhalten.
Was ist nun weiblich an St. Vincents Stil? Es ist eher die weibliche Note, die auf natürliche Weise in ihrer Musik mitschwingt. Sie stellt sie nicht zur Schau, aber verneint sie auch nicht, wie es beispielsweise die feministische Punk-Bewegung Riot Grrrl in den 90ern tat. Kein Wunder, dass die Problematik "Frauen in der Rockmusik" für sie kein Thema ist: "Ich hatte niemals dieses 'Ich bin ein Mädchen, aber ich kann trotzdem spielen Ding‘' Das ist dämlich", sagte sie mal in einem New York Times-Interview.
Mit den Jahren werden hoffentlich weitere Vorbilder folgen, die Frauen weg von der Groupie-Rolle auf die Bühne bringen. Denn nach wie vor gibt es Mechanismen, die Musikerinnen in gewisse Rollen drängen. Einer ergibt sich durch Plattenfirmen, die weibliche Künstlerinnen durch ihr Äußerliches vermarkten statt ihr musikalisches Können in den Vordergrund zu rücken. Im Unterschied zu St. Vincent war das selbstbewusste Auftreten vergangener Musikerinnen nicht selbstverständlich. Gleichberechtigung herrscht erst, wenn sie kein Thema mehr ist - und genau diese Selbstverständlichkeit lebt Annie Clark. (bt)