Was ist ein schwimmender Emo? – Eine Heulboje! Die Klischees über die aktuelle Jugendkultur haben bereits das Blondinen-Witz-Niveau erreicht. Stereotypen werden bis aufs Höchste zugespitzt: Ein Emo ist ein manisch-depressiver Teenager, der sich wie ein Gruftie schminkt, aber Skater-Schuhe, Nieten-Armbänder und pinke Totenkopf-Haarspangen trägt. Der schwarze asymmetrische Pony schützt vor dem Blick auf die grausame Realität. Wenn er nicht gerade in der Ecke sitzt und heult, schreibt er Gedichte über sein gebrochenes Herz, Verzweiflung und Todessehnsucht. Kaum eine Musikrichtung wird heutzutage so sehr von Außenstehenden belächelt oder geächtet. Bettina Taylor wollte genau wissen, was es heißt, Emo zu sein?
Definitorische Unfeinheiten zeigen sich schon, wenn es um die musikalische Einordnung des Begriffes geht: Von punkigen Bands wie My Chemical Romance bis zu eher indielastigen Gruppen alla Jimmy Eat World ist die Schublade ziemlich groß. Das Paradoxe ist vor allem, dass jede Band, die mit Emo in Verbindung gebracht wird, sich vehement gegen die Kategorisierung wehrt. My Chemical Romance-Frontsänger Gerard Way sagte in einem Gespräch mit ARTE, dass er sich als "individueller Künstler" von dem allgegenwärtigen Hype distanziere. Jimmy Eat World-Gitarrist Tom Linton betonte 2007, sie seien einfach nur eine Band "auf der Suche nach dem perfekten Song". The Killers werden im Allgemeinen zwar nicht mit dem Wort Emo assoziiert, Frontman Brandon Flowers drückte jedoch im Gespräch mit dem britischen Musikmagazin NME große Verachtung für das Genre aus. Er wolle Pop-Punk Bands wie Fall Out Boy "zu Tode prügeln". Ist das Wort Emo also mittlerweile mehr Schimpfwort als Musikgenre?
Fangen wir zunächst beim Begriff selbst an. Emo ist ursprünglich eine Kurzform für "Emotional Hardcore", sprich Punk, der auf starke Gefühlsbetonung abzielt. Aber was hat das noch mit düsteren Liebesgedichten und kitschigen Haarspangen zu tun? Um das zu verstehen, müssen wir ein wenig in die Musikgeschichte zurückblicken. Ende der Achtziger Jahre traten aus der sogenannten "Washington D.C.- Hardcore-Punk-Schule" Bands wie Rites of Spring oder Fugazi hervor, um in ihren Texten das Thema Gefühle in den Mittelpunkt zu rücken. An sich absolut nichts Neues, in der verrohten Hardcore-Szene aber revolutionär und vor allem sehr verpönt. Schließlich war es nur eine Frage der Zeit, bis diese gefühlsduseligen Punker ihre Stimmungsschwankungen auch instrumental anpassten. Moss Icon waren einer der ersten, die mit plötzlichem Wechsel zwischen Melodie und Geschrei einen Grundstein für den heute typischen Emo-Sound legten. Die nächste große Entwicklung fand in den neunziger Jahren statt, als Indierock immer experimenteller wurde und einige Hardcore- und Punkelemente übernahm. Das Album "Diary" von Sunny Real Estate (1994) gilt als Paradebeispiel für den vorwiegend in Colorado vorzufindenden "Midwest Emo". Anfang des neuen Jahrtausends mutierte der Begriff dann zur kuriosen Modeerscheinung (ursprünglich "Spock-Rock" genannt), wie wir sie heute kennen. Zur Verbreitung des Emo-Labels hat wohl auch beigetragen, dass einige Plattenfirmen den Hype zu Vermarktungszwecken nutzten. So wurde einigen Bands unwillentlich der "Emo-Stempel" aufgedrückt. Und wer hat am meisten auf diese Vermarktung angesprochen? Richtig, missverstandene Teenager! Melancholisch-introvertierte "Emo-Kids" verbreiteten sich rasch in den Schulen. Eine Jugendkultur für "Extremste-Mobbing-Opfer", wie es Emo-Hasser formulieren, war geboren.
Unser kleiner Rückblick hat gezeigt, dass man beim Label Emo weder von suizidgefährdeten Teenagern noch von Punkern mit besonderen Gefühlschwankungen sprechen kann. Musikalisch gesehen ist dieser Begriff zumindest äußerst dehnbar und wurde wohl eher von Musikjournalisten benutzt, die sich dank Vergleichen und Kategorisierungen tagtäglich die Suche nach treffenden Worten ersparen. Auch der Modestil wird nicht ausschließlich von ewig lamentierenden Heulsusen getragen. Aber vor allem: Welcher normale Teenager fühlt sich nicht mal missverstanden? Wenn es um Etiketten geht, sucht man oft nur einen Weg, um es sich einfach zu machen, sei es in der Musik oder bei den Menschen.
Weitere Kostproben und Hintergrundinfos zum Thema Emo gibt es hier.