Nach der Mp3 kommt der Musik-Strom: Das Multimedia-Projekt von Pitchfork-Redakteur Eric Harvey zeigt, wie Streaming-Dienste unsere Hörgewohnheiten maßgeblich prägen. Bettina Taylor hat es sich angesehen:
Seit der Mensch Musik erfunden hat, versucht er sie auf Tonträgern festzuhalten und seitdem kämpfen Künstler um ihre Urheberrechte. Als Graham Bell 1876 das Telefon zum Patent anmeldete, proklamierte die New York Times, die Leute würden keine Konzerte mehr besuchen, sondern sie über Leitungen genießen. In den 30er-Jahren sagten Musiker aufkeimenden Radiosendern aus ähnlichen Gründen den Kampf an. Die Urheberfrage ist also kein Phänomen des digitalen Zeitalters, sondern wird scheinbar mit jeder Tonträger-Generation neu aufgedröselt. Jetzt ist es wieder so weit: Im Juli 2013 legte sich Radiohead-Frontman Thom Yorke mit dem Streaming-Dienst Spotify an. Die Musik würde zu Discount-Preisen verscherbelt, um riesige Datenbanken zu füttern. Ist dieses akustische McDonalds-Konzept aber nicht immer noch besser als ein illegaler Download?
Wer sich darüber eine Meinung bilden möchte, muss das Spotify-Geschäftsmodell verstehen. Aus Nutzersicht ist es schnell erklärt: Mit einem Abo gibt es keine Werbeeinblendungen und unbeschränkten Zugriff auf die digitale Jukebox. Aus Musikersicht ist es etwas komplizierter: Zunächst sitzt er oder sie nicht am Verhandlungstisch, sondern das Musiklabel, das natürlich für seine Dienste bezahlt werden möchte. So bleibt dem Musiker bei einem Album mit 15 Liedern etwa 0,02132 Euro, wie Recherchen des Hessischen Rundfunks ergeben haben. Zum Vergleich: Bei einem CD- oder Plattenverkauf sind es etwa drei Euro. Weil Streaming-Dienste mittlerweile auch den deutschen Musikmarkt erobern, werden solche Rechnungen immer relevanter. Im ersten Halbjahr 2014 machten sie 7,7 Prozent aller Musikverkäufe aus. Die Tendenz steigt vor allem bei Jugendlichen: Jeder zweite 14- bis 29-Jährige nutzt Spotify & Co. regelmäßig, so eine Umfrage des Hightech-Verbands BITKOM.
Aber was macht Streaming-Dienste so beliebt? Zum Erfolgsrezept gehören ebenfalls Zahlenspiele. Wahrscheinlichkeitsberechnungen durch komplexe Algorithmen machen es möglich, dass sich ein Streaming-Dienst dem Musikgeschmack seiner Nutzer anpasst. Dazu muss jedes Lied in Eigenschaften wie Genre oder Rhythmus eingeteilt werden. Diese Infos werden dann mit den Nutzerprofilen verglichen. Ähneln sich zwei Nutzer, schlägt das System die Favoriten des anderen vor – oder einfach ausgedrückt: Menschen, die das gehört haben, haben auch das gehört. Facebook- und Twitter-Feeds funktionieren nach ähnlichen Filter-Prinzipien. Sie bändigen nicht nur tägliche Informationsfluten, sondern geben moderner Marktforschung ihren Nährboden.
Doch wie vorhersehbar sind wir als Musikfans? Harveys Pitchfork-Projekt macht deutlich, dass diese Technologie auch Nachteile birgt. Letztlich bestimmen Spotify-Programmierer, welche Musik als "exotisch" oder "klassisch" durchgeht. Man braucht sich nur mit seinen Eltern über Musik zu unterhalten, um zu verstehen, wie subjektiv derartige Einteilungen sind. Alles, was sich nicht in Variablen ausdrücken lässt, könnte außerdem von der kulturellen Bildfläche verschwinden.
Das sogenanntes Social Tagging ist transpatenter: Wer Musik hochlädt, kann sie selbst verschlagworten. Auf Plattformen wie YouTube zeigt sich die Vielfalt, die entsteht, wenn man dadurch einem weltweiten Publikum ein Stück Gestaltungsfreiheit gibt. Hip Hop-Beats werden zum Beispiel mit Weltmusik vermischt und lassen neue Genres aufleben. Die Musik geht über ihre Tonträger hinaus. Eric Harvey greift diesen Punkt in einer geschichtsträchtigen These auf: Der kurze Zeitraum, in dem Musik als Ware gehandelt wurde, sei vorbei. Jetzt gleite sie wieder in ihre ursprüngliche Immaterialität zurück. Doch auch diese will entlohnt werden. Wer Künstler unterstützen möchte, hat von der Platte also letztlich mehr als von digitalen Endlos-Jukeboxen. (bt)