Der 18. Geburtstag ist tatsächlich sehr überschätzt, erzeugt Volljährigkeit doch gemeinhin eine seltsame Erwartungshaltung an Pflichten, Vernunft und Verantwortungsbewusstsein. Wer braucht das schon? Keine Sorge, wir sprechen hier nicht von erwartungsfrohen Jungwählern, sondern von Bands. Allerdings beschäftigt sich Andreas Babiak heute mit der Band Tocotronic, die auch im 19. Jahr des Bestehens noch weiß, dass pure Vernunft niemals siegen darf und dass man auch mal kapitulieren darf.
Im Jahr 1993 beschlossen Jan Müller, Arne Zank und Frontmann Dirk von Lowtzow gemeinsam als Tocotronic "Diskursrock" zu machen, wie sie ihre Musik selbst bezeichnen. Benannt nach der japanischen Spielkonsole, die der Vorgänger des Gameboys war, spielten die drei zunächst im Hamburger Untergrund, bis 1995 ihr erstes Album "Digital ist besser" erschien. Nach einer Tour veröffentlichten die Hamburger Jungs direkt ihr zweites Album "Nach der verlorenen Zeit".
Ihre erste Chartplatzierung erreichten die Seitenscheitelträger mit ihrem dritten Album "Wir kommen um uns zu beschweren", das 1996 erschien. Aufmerksamkeit erlangte die Band aber vor allem dadurch, dass sie einen Musikpreis ablehnte. Die Hamburger, die in der Kategorie "Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben" nominiert waren, begründeten dies mit den schlichten Worten: "Wir sind nicht stolz darauf, jung zu sein. Wir sind auch nicht stolz darauf, deutsch zu sein. Und auf dem Weg nach oben, naja ...".
Nach einer Konzertreise durch viele kleine Städte, erschien 1997 "Es ist egal, aber", das bis auf Platz 13 der Charts stieg. In der Folgezeit tourte die Band sehr ausgiebig, 1998 sogar in den USA, wo sie auch die ersten Aufnahmen für ihr fünftes Album "K.O.O.K." machten. Dieses Album ist in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt in der Bandgeschichte, die Texte überzeugten durch ihre Metaphorik, und die Musik wirkte introvertierter. Dies brachte der Band ihren ersten Platz in den Top-Ten der Albencharts ein. Danach war wohl erst mal eine Kunstpause angesagt. Jedenfalls versteckten sich die Indie-Rocker bis zum Jahr 2002, um an einem neuen Album zu arbeiten – heraus kam "Tocotronic".
Bereits im Alter von elf Jahren konnte die Band Nachwuchs aufweisen; Rick McPhail, der die Band schon oft auf Tour begleitete, wurde offizielles Bandmitglied. Im Folgejahr erschien auch schon das siebte Album der rockenden Hamburger, mit dem Titel "Pure Vernunft darf niemals siegen". Neben den parolenhaften Liedtiteln zählen die Seitenscheitel, die Trainingsjacken in Kombination mit Cordhosen – sinnbildlich zur Stilfindung eines Jugendlichen – und die einfache Gitarrenrockmusik zu den Stilmitteln der Band. Sie wollten anders sein, deshalb zogen sie sich, für ihre Zeit, bewusst uncool an. Doch mit dem im Jahr 2007 erschienen Album "Kapitulation" verschwand auch zunehmend der eigenwillige Kleidungsstil der Band, die langsam aber sicher immer mehr auf sehr schlichte, fast schon uniformierte, meist komplett schwarz gehaltene Kleidung wich, um den Fans die Möglichkeit der Kopie zu nehmen. Sie verwirrten mit Absicht, sie lieben die Ironie und sie setzen mit jedem neuen Werk das alte in Frage. Sie wollen verweigern, sie wollen appellieren und sie wollen nur sich selbst treu bleiben. Da passt es auch, dass die Band sich 2007 – sozusagen in ihrer Drangphase der Pubertät – auch von ihrer langjährigen Plattenfirma L'age d'or trennte.
2010 erschien das bisher letzte Album der Band. "Schall & Wahn" stieg auf Platz 1 der Single-Charts ein, was der Band bis dahin noch nie gelungen ist. Seit einigen Jahren begeistert Dirk von Lowtzow mit seinen Texten auch die Feuilletonisten, die Tocotronic inzwischen bescheinigen, eine der wichtigsten deutschen Bands der letzten 20 Jahre zu sein. Als Teil der sogenannten "Hamburger Schule" ist die Band in der linken Szene aktiv. Und so kommt man dann doch wieder da raus, wo man mal angefangen hat; bei der Volljährigkeit und dem damit verbundenen Verantwortungsbewusstsein. Die Band versucht die Jugend zur Partizipation zu motivieren, sie spielen Konzerte gegen neuerliche Nationalisierungstendenzen und nehmen bei Solidaritätsaktionen teil. Und es ist doch gut zu wissen, dass nach der Volljährigkeit noch viel Zeit bleibt um sich auszuleben, viel Neues auszuprobieren und endlich mal den Frisör zu wechseln. (ab)